Vergangenheit und Zukunft

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“Wozu Biographiearbeit? An der Vergangenheit kann ich ja sowieso nichts ändern. Ich kümmere mich lieber um die Zukunft!”

Das tönt zunächst plausibel. Doch das Leben funktioniert nicht linear. Tatsächlich ist die Zukunft von der Vergangenheit geprägt, doch steckt bereits in der Vergangenheit viel Zukunft. Das ist paradox. Das Paradoxe ist jedoch ein Merkmal des Menschen und seines Lebens.

Erinnerung ist ein dauernder Gestaltungsprozess. Woran und wie ich mich erinnere ist Resultat meiner gegenwärtigen Tätigkeit. Die Arbeit des Erinnerns ist nicht nur davon bestimmt, was gerade meine Befindlichkeit ist, sondern vor allem, was meine Impulse sind, mit denen ich in die Zukunft gehe. Während Gedanken sich auf das Vergangene beziehen, Gefühle die Gegenwart spiegeln, ist Wollen ganz auf die Zukunft gerichtet. Der Impuls, mich zu erinnern, führt in die Zukunft.

Bei der Biographiearbeit geht es ebensosehr um die Zukunft wie um die Vergangenheit. Ohne Verständnis für das Vergangene lässt sich das Künftige nicht bewusst gestalten. Ohne ein Verständnis, was ich im Leben eigentlich will, macht ein Sammeln von Erinnerungen wenig Sinn.

Biographiearbeit verändert das Bewusstsein über die Vergangenheit. Es werden Zusammenhänge erkennbar, die einem bislang verborgen waren. Was als Hindernis empfunden wurde, zeigt sich nunmehr als etwas Hilfreiches. Was mir stets als Feind erschienen war, verwandelt sich zum Förderer. Die Vergangenheit ist etwas Lebendiges, das sich durch das Bewusstsein im Heute in die Zukunft hinein entwickelt. Wenn man ein Ereignis, das einem vor längerer Zeit widerfahren ist, inzwischen “mit anderen Augen” betrachtet, hat man die eigene Vergangenheit für die Zukunft umgestaltet.

Das Schicksalshafte, das sich in manchem Lebensereignis zeigt, zeugt vom Künftigen, das in der Vergangenheit wirksam war. Etwas in mir hat das Ereignis gesucht, das mich zu dem werden liess, was ich heute bin.

Was der normalen Logik widerspricht, wird in der Biographiearbeit erlebte Gesetzmässigkeit: Zukunft gestaltet Vergangenheit, Vergangenheit entwickelt sich in der Zukunft.

 
ThemenMartin Studer